“Hildegard Hammerschmidt-Hummel [...]”, Anglistik. Mitteilungen des Deutschen Anglistenverbandes
(März 2005), S. 217-221 [Rubrik: Porträts]

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Als Hildegard Hammerschmidt im WS 1967/68 in Marburg ihr Studium der Anglistik, Amerikanistik, Geschichte und Politikwissenschaft begann, konnte sie noch von der Blüte der Geisteswissenschaften in den beiden ersten Nachkriegsjahrzehnten profitieren, in denen versucht wurde, das humanistische wie das christliche Erbe Europas wiederzugewinnen und weiterzutragen. Die Wahl ihrer Universitätslehrer Karl Christ, Helmut Beumann, Andreas Hillgruber sowie der ”Rebellen” Wolfgang Abendroth und Ernst Nolte spricht für Hildegard Hammerschmidts kritisches historisches Interesse. Neben dem Anglisten Oppel war ihr einflussreichster Lehrer zweifellos der Althistoriker Christ. Es ist somit kein Zufall, dass sie ihrem Doktorvater Oppel Anfang 1970 ein Dissertationsthema über das (jüngere) englische Geschichtsdrama vorschlug - mit einer vergleichenden Betrachtung des Historiendramas der Shakespeare-Zeit.
Ihre erste Begegnung mit Kanada verdankt sie dem Aufsatzwettbewerb ”German Canadian Relations: Past, Present, Future” (1969). Sie gewann den ersten Preis, eine zehntägige Reise nach Quebec und Ontario. Ihre erste gedruckte Arbeit - sie wurde von ihrem Lehrer Karl Christ in Auftrag gegeben und erschien in der Alma Mater Philippina (1970) - ist ein Exkursionsbericht über die Römer in der Provence. Im April 1970 wurde sie Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Im August 1970 nahm Hildegard Hammerschmidt erstmals an der Internationalen Shakespeare-Konferenz in Stratford-upon-Avon teil. Dort lernte sie Samuel Schoenbaum kennen, dessen Buch Shakespeare’s Lives gerade erschienen war, ein Buch, das sie faszinierte, in dem sie später jedoch eine Reihe von Widersprüchen aufspüren sollte.
Im Juli 1972 promovierte sie mit der Arbeit ”Das historische Drama in England (1956-1971)” und wurde Verwalterin einer Assistentur am Englischen Seminar der Universität Marburg. Ihre historischen Interessen bestimmten auch die Wahl des Themas ihrer Habilitationsschrift: ”Die Importgüter der Handelsstadt London als Sprach- und Bildbereich des elisabethanischen Dramas”. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft gewährte ihr 1973 ein 2 ½jähriges Habilitationsstipendium. Ab April 1976 war sie Assistentin an der Universität Mainz, wo sie sich im Februar 1977 habilitierte. In ihrer fächerübergreifenden Studie beleuchtete sie die gewaltige Expansion Europas in der frühen Neuzeit und zeichnete die fieberhafte, weltweite Gründung englischer Handelsgesellschaften und -stützpunkte sowie erste englische Kolonisierungsversuche nach. Akribisch listete sie die neuen nach London einströmenden Importgüter auf und untersuchte ihre beispiellose Auswirkung auf den Lebensstandard, die Sprache und die Literatur des elisabethanischen England. Im Anhang skizzierte sie die Situation in den Niederlanden, wo die neuen überseeischen Genußmittel und Luxusobjekte (unter ähnlichen religiösen, sozialen und ökonomischen Bedingungen) die Malerei befruchteten, als Vanitas-Symbole verwendet wurden und zur Entstehung eines neuen Genres beitrugen: der Stillebenmalerei.
Nach ihrer Habilitation nahm Hildegard Hammerschmidt mehrere Lehrstuhlvertretungen in Marburg wahr, legte dort 1978 das Staatsexamen in Englisch und Geschichte ab, wurde im selben Jahr Vorstandsmitglied des Verbandes der Wissenschaftler an Forschungsinstituten und vertrat den Verband u. a. auf der Westdeutschen Rektorenkonferenz im Berliner Reichstag im Jahre 1979. Ihre erfolgreiche Teilnahme an einem Auswahlkolloquium für ein DAAD-Lektorat und eine mehrwöchige Ausbildung in der Ausbildungsstätte des Auswärtigen Amts in Bonn (1978) trugen ihr das Angebot der Leitung des Kulturreferats am deutschen Generalkonsulat in Toronto ein. Hildegard Hammerschmidt wurde dort für drei Jahre ”German Consul for Cultural Affairs” (1979-82). Sie wirkte an bedeutenden Kunstausstellungen mit, gestaltete das wissenschaftliche Rahmenprogramm zur Ausstellung German Masters of the Nineteenth Century (New York und Toronto, 1981) und publizierte - zusammen mit dem Historiker Modris Eksteins von der University of Toronto und mit Unterstützung des Torontoer Goethe-Instituts - den Sammelband Nineteenth-Century Germany (1983). Sie hielt Vorträge an kanadischen Universitäten, eröffnete Ausstellungen, brachte prominente Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur beider Länder zusammen, nahm an internationalen Diskussionen teil, förderte die deutschen Traditionsverbände in Ontario und erläuterte den demokratischen Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland in der Nachkriegszeit.
Aus Toronto zurückgekehrt, stellte sich Hildegard Hammerschmidt - im Auftrag der Schüler Horst Oppels - der Aufgabe, die Sammlung des Shakespeare-Bildarchivs zu betreuen und herauszugeben. Ihr Lehrer hatte das Archiv nach dem zweiten Weltkrieg in Mainz gegründet und es in den 1960er Jahren als Mitglied der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur der Akademie angeschlossen. Als er im Juli 1982 an den Folgen eines Schlaganfalls starb, übernahm sie - in Zusammenarbeit mit den auswärtigen Projektleitern Rudolf Böhm, Horst W. Drescher und Paul Goetsch sowie dem Mainzer Akademiemitglied Werner Habicht - die Durchführung des DFG- und Akademie-Projekts ”Die Shakespeare-Illustration”. Innerhalb weniger Jahre konnte sie die Bestände des Archivs von ca. 1600 auf ca. 7000 Illustrationen erweitern. Das dreibändige Werk Die Shakespeare-Illustration (1594-2000). Bildkünstlerische Darstellungen zu den Dramen William Shakespeares erschien 2003. Es enthält über 3000 Illustrationen mit spezifizierten Bildlegenden, ein Künstlerlexikon, eine klassifizierte Bibliographie, vier Register sowie einen Abriß zu Geschichte, Funktion und Deutung der bildkünstlerischen Werke. Im WS 1984/85 nahm Hildegard Hammerschmidt eine Gastprofessur in Kassel wahr. Als Anschlußfinanzierungen des DFG-Projekts auf sich warten ließen, publizierte Hildegard Hammerschmidt-Hummel die Akademieabhandlung Die Shakespeare-Illustrationen des Frankfurter Malers Victor Müller im Städelschen Kunstinstitut (1990) und das Buch Die Traumtheorien des 20. Jahrhunderts und die Träume der Figuren Shakespeares (1992).
Im Jahre 1995 gelang ihr mit Hilfe modernster Identifikationstechniken des Bundeskriminalamtes und unter Hinzuziehung mehrerer Mediziner der Beweis, dass die Darmstädter Shakespeare-Totenmaske die echte Totenmaske William Shakespeares ist und zwei bisher umstrittene Shakespeare-Porträts (das Chandos- und das Flower-Porträt) nach dem Leben gemalt wurden und den Dichter - wie auch die Totenmaske - authentisch mit einer Reihe von Krankheitsmerkmalen wiedergeben. Die pathologischen Symptome auf den Porträts und an der Maske hatte sie zuvor von Fachmedizinern diagnostizieren und vergleichen lassen. Gestützt auf das Bildgutachten des BKA-Sachverständigen, konnte sie ferner beweisen, dass die Totenmaske des Dichters als Vorlage für seine Grabbüste in der Kirche zu Stratford gedient hat. Diese Entdeckungen spielten auch bei den drei zentralen Werken der Autorin eine besondere Rolle: Das Geheimnis um Shakespeares ‘Dark Lady’ (1999), Die verborgene Existenz des William Shakespeare (2001) und William Shakespeare. Seine Zeit - Sein Leben - Sein Werk (2003). In ihnen wird auf der Grundlage neuer bzw. neu erschlossener historischer Quellen und zahlreicher Experten-Gutachten ein völlig neues, in sich widerspruchsfreies und überzeugendes Bild vom Leben, der Persönlichkeit und dem literarischen Schaffen William Shakespeares gezeichnet, und zwar in enger Vernetzung mit der englischen Geschichte des elisabethanisch-jakobäischen Zeitalters.
Die Erkenntnisse Hildegard Hammerschmidt-Hummels auf dem Gebiet der Shakespeare-Biographik gehen weit über das bislang Bekannte hinaus. Sie vermögen die meisten der Lücken zu schließen und bisher offene Fragen überzeugend zu beantworten: beispielsweise die Frage nach Shakespeares Aussehen, seiner Religion, seiner schulischen und akademischen Ausbildung, seinem ersten Arbeitgeber, seinen Aufenthalten in den ”lost years”, seinen Tätigkeiten im katholischen Untergrund und der Identität seiner ”Dark Lady”, die von ihm schwanger war und die er - zusammen mit seiner noch ungeborenen Tochter - an seinen gräflichen Förderer, Freund und Rivalen Southampton verlor. Schlüssig beantwortet wurde schließlich auch die Frage nach Shakespeares Verwicklung in den erbitterten politischen Machtkampf am Ende des Ära Elisabeths I. und der Ursache für seine plötzliche Wende zum Tragischen. Einleuchtend argumentiert die Autorin, dass Shakespeare in dem bisher verrätselt gebliebenen Klagegedicht The Phoenix and the Turtle, einem imaginären Requiem mit einem katholischen Priester, seinen gescheiterten politischen Hoffnungsträgern (Essex und Southampton) ein literarisches Denkmal gesetzt hat und dass es die tragischen Ereignisse um Essex waren, die die Hoffnungen der englischen Katholiken und Shakespeares zunichte machten und bei dem Dichter ein Trauma erzeugten, das er in der Tragödie des Hamlet zu verarbeiten suchte.
Wir können Hamlet mit Hildegard Hammerschmidt-Hummel heute weitgehend als ein Schlüsseldrama der elisabethanischen Monarchie, des Glaubenszwangs und der Martyrien der Verfolgung lesen, denen die damalige katholische Bevölkerung Englands ausgesetzt war. Teilweise war diese Lesart schon von dem englischen Shakespeare-Forscher John Dover Wilson vermutet worden. Vor dem rigiden religionspolitischen Szenario der elisabethanisch-jakobäischen Realität, das die Autorin erstmals umfassend erschlossen hat, werden diesbezügliche Vermutungen nun zur Gewissheit. Auch die Stücke Richard II, Henry V und Julius Caesar waren - wie die Autorin belegt - in der sich zuspitzenden Krise von großer zeitkritischer Relevanz, wurden von den Essex-Anhängern politisch instrumentalisiert und haben gleichfalls eine Art Schlüsselrolle gespielt. Die Verfasserin zeigt auf, dass Shakespeares große Wende zum Tragischen mit Hamlet einsetzte und der Dichter seither keine Komödien und Historien mehr schrieb (mit Ausnahme von Henry VIII), sondern nur noch Tragödien, bittere Problemstücke und Romanzen. In seinen Tragödien King Lear und Macbeth scheint er ebenfalls auf das große Leid seiner verfolgten Landsleute abgehoben zu haben. In den Romanzen, in denen das Moment der Versöhnung im Zentrum steht, deckte die Autorin ein dominierendes autobiographisches Motiv auf: das der ”Suche nach der verlorenen Tochter”.
Das überzeugende neue Shakespeare-Bild, das Hildegard Hammerschmidt-Hummel entworfen hat, ist in vielen Zügen revolutionär. Es stellt allerdings eine große Herausforderung dar, in der Hauptsache an das Vereinigte Königreich. Elisabeth I. gilt als die große Wegbereiterin der englischen Nation. Sie legte den Grundstein für Englands Seemacht und das Britische Imperium. Sie löste sich endgültig von Rom, gab ihrem Land eine protestantische Grundordnung. Von Rom exkommuniziert und konfrontiert mit einer heimlichen jesuitischen Rekatholisierungbewegung im eigenen Land, sah sie sich schließlich gezwungen, immer schärfer gegen ihre katholischen Untertanen vorzugehen. Ihre Ziele setzte sie, falls nötig, mit Gewalt durch. Hildegard Hammerschmidt-Hummel hat schlüssig dargelegt, dass der Katholik Shakespeare nicht auf der Seite der englischen Regierung gestanden haben kann und zwangsläufig ein Gegenspieler der Krone war. Als Dichter aber lasse er sich keineswegs auf eine katholische Doktrin festlegen, da sein Werk und seine Weltsicht bekanntlich universal seien.
Die Autorin vermag auf eine Leistung zurückzublicken, die das Werk William Shakespeares in seiner Größe und Geschlossenheit, seiner historischen Einzigartigkeit und Zeitlosigkeit sowie den singulären Bedingungen seiner Entstehung völlig neu und nachvollziehbar einordnet und deutet, es kritisch würdigt und einer breiten, nicht nur akademischen, Leserschaft näherbringt. Sie hat sich damit innerhalb der nationalen und internationalen Shakespeare-Forschung ihren eigenen Rang gesichert. Neue Erkenntnisse setzen sich nicht über Nacht durch, vor allem dann nicht, wenn sie unbequem sind. Frau Hammerschmidt-Hummels Kollegen werden sich dieser Herausforderung für ein oder mehrere Jahrzehnte stellen müssen. Sie dürfen sie zu dieser herausragenden Leistung beglückwünschen. Wir wünschen ihr und ihrem Werk Anerkennung, ihr und ihrer Familie für die Zukunft Freude, Glück, Gesundheit und Schaffenskraft.


Kurt Otten


[Professor (em.) für Englische Philologie
(Literaturwissenschaft), Universität Heidelberg,
Visiting Fellow, Clare Hall, Cambridge University]

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